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UNRUHIGES WARTEN BEIM HANSA-LUFTVERKEHR

Während das Luftschiff noch auf dem Wege nach Hamburg war, richtete man sich im Kontor von Richard Pfaffe schon auf die erhoffte Ankunft des Parseval ein. Schauen wir uns doch mal an, wie das ausgesehen haben könnte:

 

Es war für Richard Pfaffe eine unruhige Nacht. Trotz des nach Mitternacht eingetroffenen Telegramms vom Führer des Parseval, Oberleutnant Stelling, war aufgrund von erwarteten schweren Inlandböen eine sichere Ankunft des Luftschiffes in Hamburg nicht gewährleistet. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, ob das Schiff auf seinem Flug zu einer Zwischenlandung oder gar Umkehr gezwungen sein könnte.

Schon seit Tagen standen die Beamten des Hansa-Luftverkehr auf Anweisung des Direktoriums für den sofortigen Aufbruch bei erwarteter Ankunft des Parseval bereit. Ein Anruf des Direktoriums genügte. Von einem geplanten offiziellen Empfang wurde aufgrund der Umstände vorerst Abstand genommen. Von seinem Büro im ersten Stock der Ferdinandstraße 22, in dem er die Nacht zum Pfingstsonntag verbrachte, informierte Richard die Nachtredaktionen der Hamburger Zeitungen. Seit Tagen wiederholte er die immer gleich lautende Meldung: Start ungewiss, schlechte Windverhältnisse. Die Morgenblätter würden um ein weiteres Mal die lakonische Meldung bringen, dass der Parseval nicht kommen werde. Richard, der sich eine Liege in sein Büro hatte stellen lassen, konnte kaum einen erholsamen Schlaf finden. Immerzu wälzte er sich herum. Mehrmals stand er auf, um nachzusehen, ob der Telegrafenschreiber eine Nachricht empfangen hatte. Aber nichts.

Hin und her gerissen überlegte Richard, was zu tun sei, sollte der Parseval diesen Nachtflug doch zu einem guten Ende führen. Gegen sechs Uhr früh weckte Richard seinen Prokuristen Söhren, der ebenfalls eine Schlafgelegenheit in seinem Büro aufgestellt hatte. Söhren schreckte auf und war umgehend hellwach.

          „Ist er da? Haben Sie Meldung erhalten?“, rief Söhren aufgeregt aus.

      „Nein“, antwortete Richard in ruhigem, fast schon beiläufigen Tonfall. „Aber wir sollten die nötigen Vorbereitungen treffen.“

Richard setzte sich auf den Schreibtischstuhl seines Prokuristen, während dieser seine Kleidung richtete.

        „Informieren Sie zuerst die Militärbehörden. Wir brauchen die zupackenden Soldatenhände an der Halle. Schließlich muss das Schiff schnell und sicher zu Boden gebracht werden“, dirigierte Richard seinen Mitarbeiter. Söhren nickte.

        „Ab sieben Uhr, wenn die Telefonvermittlungen ihre Arbeit aufgenommen haben, sollten wir bei den Post- stellen entlang der ungefähren Flugroute anfragen, ob der Parseval gesichtet wurde“, führte Richard weiter aus.

          „Wird umgehend erledigt!“, antwortete Paul Söhren und begab sich zur Telegrafenstation im Nebenraum.

Mit den Militärbehörden war abgesprochen worden, dass bei Eintreffen von entsprechender Nachricht umgehend Soldaten aus den Regimentern 31 und 76 abkommandiert werden würden. Als Söhren in sein Büro zurückkam, stand Richard am Fenster und schaute sorgenvoll in den hellblauen wolkenlosen Morgenhimmel.

         „Ich hoffe, es wird alles gut gehen“, sagte er zu seinem Prokuristen, als dieser sich neben ihn ans Fenster stellte. Die Zeit bis zum Arbeitsbeginn der Telefonvermittlung verlief zäh. Richard entschied, dass Botenjungen seine Mitarbeiter ins Kontor in die Ferdinandstraße und zur Luftschiffhalle bei Ohlsdorf beordern sollten. Trotz der Pfingst-feiertage hatte Richard Dienstpflicht angeordnet. Jeder eintreffende Mitarbeiter wurde umgehend an die telefonische Abfrage bei den Poststellen gesetzt. Vergebens. Keiner hatte den Parseval gesehen.

Richard musste an das Breslauer Luftschiffunternehmen denken, von dem er vor ein paar Tagen in der Zeitung gelesen hatte. Die schlesische Gesellschaft hatte ihr ganzes Vermögen eingebüßt, da das angekündigte Luftschiff nicht erschienen war. Richards Sorge wuchs. Sollte gar ein widriger Windstoß das Luftschiff zum Absturz gebracht haben? Das würde das Ende für seine Aeronautische Veranstaltung mit dem Hansa-Luftverkehr bedeuten. Und nicht nur das. In der Hamburger Kaufmannschaft würde man ihn in Zukunft nur noch als Pechvogel ansehen, der einst wie Ikarus hoch hinaus wollte und dann doch gegenüber den Schicksalsmächten kläglich gescheitert war. Unruhig ging Richard im Kontor auf und ab. Sogar den von einem Mitarbeiter gebrachten Kaffee lehnte er ab. Paul Söhren entging es nicht, dass die Anspannung ihres Chefs auch die Mitarbeiter ergriff. Schweigend saßen alle mit ent- mutigten Gesichtern im Hauptkontor zusammen. Plötzlich ein tackerndes Geräusch aus dem Nebenraum die Stille durchbrach. Der Telegrafenschreiber!

Wie auf Kommando sprangen alle zugleich auf. Söhren, der nahe der Tür saß, hob die Hand in die Höhe und rief:

         „Halt!“

Die Kollegen hielten in ihrer Bewegung inne.

         „Ich gehe!“, sagte Söhren und verließ den Raum.

Er dechiffrierte die Morsezeichen auf dem Papierband des Telegrafenschreibers und übertrug die Nachricht auf einen weißen Bogen des hauseigenen Briefpapiers. Nachdem er die Schreibfeder beiseitegelegt hatte, betrachtete er das Blatt und musste unwillkürlich lächeln. Zaghaft klopfte er an die Tür des Direktors des Hansa-Luftverkehr. Er vernahm den Ruf von Richard Pfaffe, der ihn zum Eintreten aufforderte, und öffnete die Tür. Gemessenen Schrittes ging Söhren auf dessen Schreibtisch zu und legte ihm den Briefbogen vor. Richard, der mit einer Zigarre in der Hand am Fenster stand, griff sich das Papier.

        „Unglaublich!“, rief er aus, und sah verblüfft in Söhrens grinsendes Gesicht. Während sich Richard Hut und Mantel von seinem Kleiderständer griff, rief er seinem Prokuristen mit aufgeregter Stimme zu:

         „Informieren Sie die anderen! Wir fahren umgehend zur Luftschiffhalle!“

Es war das Telegram des Bahnhofsvorstehers aus Hitzacker, das Richard und seine Mitarbeiter in diese euphorische Betriebsamkeit versetzte. Gerade als sich die Kirchgänger gerüstet hatten, um zum Frühgottesdienst zu gehen, war der Parseval über der Stadt an der Jeetzelmündung zur Elbe bemerkt worden. Unverzüglich wurden die Automobile bestiegen, und man eilte Richtung Barmbeck und von dort die Fuhlsbütteler Straße hinauf bis zur Luftschiffhalle.

Überall strebten festlich gekleidete Menschen an diesem Pfingstsonntagmorgen den beliebten Ausflugsorten in Ohlsdorf und den Walddörfern zu. Sogar in den Anlagen des Forsthofes in der Nähe der Luftschiffhalle genoss eine große Zahl an Ausflüglern den herrlichen blauen Himmel. Überall erfreuten sich die Menschen an ihren weißen Kleidern und neuen Sommerhüten. Als die Automobile des Hansa-Luftverkehrs auf den Vorplatz mit den Kassenhäuschen einbogen, wurden sie schon von den abkommandierten Soldaten und einem starken Aufgebot an Schutzmännern erwartet.

Aus einem der Straße zugewandten Gebäude an der Rückwand der hölzernen Luftschiffhalle kamen ihnen weitere Mitarbeiter entgegen. Einer eilte gleich zu Richard Pfaffe und hielt ihm die neuesten Depeschen entgegen.

        „Herr Pfaffe, gerade kam ein Anruf herein. Der Parseval ist über Bergedorf gesichtet worden!“, rief ihm ein junger Mitarbeiter aufgeregt zu.

         „Was? Schon über Bergedorf?“, staunte Richard und schaute verblüfft in Richtung Barmbeck, von wo sie den Parseval eigentlich erwarteten. Doch über Barmbeck reckten sich nur die riesigen backsteinernen Schlote der Industriebetriebe und des neuen Barmbecker Krankenhauses in den Himmel. Jetzt trat der Kompanieführer militärisch grüßend an Richard heran.

       „Herr Direktor Pfaffe, melde auf das Gehorsamste, dass die Musketierbataillone der Infanterieregimenter Hamburg und Graf Bose vollzählig angetreten sind“, bellte der Leutnant.

Beide Bataillone hatten ohne ihren Morgenkaffee aus den Kasernen in der Altonaer Viktoriastraße und der Bundesstraße ausrücken müssen. Nachdem Richard über die Umstände des frühen Ausrückens aus den Kasernen unterrichtet wurde, trat er an die in Zweierreihen stehenden Soldaten auf der Längsseite der Halle heran.

         „Meine Herren!“, rief er mit lauter Stimme, und sechzig Augenpaare schauten zu ihm.

         „In Kürze erwarten wir die Ankunft des Parseval Luftschiffes aus Bitterfeld“, sagte er und schritt die Reihe der Soldaten ab.

        „Sie sind bezüglich der Handhabung bei Start und Landung eines solchen Luftschiffes eingewiesen worden?“, fragte Richard weiter.

       „Jawoll!“, antworteten ihm sechzig Kehlen wie mit einer Stimme. Richard freute sich, klatschte die Hände zusammen und rief den Soldaten zu:

         „Ausgezeichnet. Begeben Sie sich nun also auf den Landungsplatz. Kehrt Marsch!“

Als sich die Truppe in Bewegung gesetzt hatte, eilte der junge Mitarbeiter wieder auf Richard zu.

         „Der Parseval wurde gerade über dem Winterhuder Marktplatz gesichtet!“

         „Na sowas! Dann sind die aber ordentlich vom Wind abgetrieben worden“, rief Richard erstaunt.

Während die Kassenhäuschen besetzt wurden, begaben sich die restlichen Mitarbeiter mit Richard Pfaffe und Prokurist Söhren zum Platz vor der Eingangseite der Luftschiffhalle. Neugierig reckten sie die Hälse, alle schauten in den Himmel in westlicher Richtung. Am Horizont erschien plötzlich ein langer gelber Fleck. Schnell kam er näher und allmählich wurde der Umriss deutlich erkennbar. Dann brauste der Parseval heran. Richard fiel plötzlich ein Vers aus der Apostelgeschichte ein. „Als der Pfingsttag gekommen war, geschah ein Brausen vom Himmel.“

Hier war es allerdings nicht der heilige Geist, der vom Himmel kam, sondern der Ballonkörper des Parseval mit der Gondel, in der sich die Insassen klar gegen den Himmel abzeichneten. Der Parseval wendete, umkreiste dreimal die Halle wie ein Vogel sein Nest. Dann senkte sich die Spitze. Die Haltetaue wurden ausgeworfen und die kräftigen Fäuste der Soldaten packten zu. Langsam glitt der Koloss auf den großen Platz vor der Luftschiffhalle.

Mittlerweile füllte sich der Platz mit Ausflüglern, die den Parseval hatten heranfliegen sehen und sich umgehend zum Flugplatz begeben hatten, um dem Schauspiel der Landung beizuwohnen. Die allseitige Begeisterung stand jedem ins Gesicht geschrieben. Nachdem die Motoren des Parseval verstummt waren, drängten die Schaulustigen an die Gondel heran. Richard begrüßte die Besatzung und überreichte nach einer kurzen Ansprache, in der er seiner Freude darüber Ausdruck verlieh, dass die Fahrt des Parseval so glücklich beendet worden war, Oberleutnant Stelling einen Lorbeerkranz sowie ein Silbergeschenk. Sogar eine alte Dame kam mit einem Rosenstrauß heran, um sie dem Führer des Luftschiffes zu übergeben. August Stelling bedankte sich herzlich für den freundlichen Empfang. Ebenso wie seine Mitreisenden sah man ihm die Strapazen der Nacht an.

Nach der Begrüßungszeremonie rief der Luftschiffer den Mannschaften an den Haltetauen einige kurze Kommandoworte zu, dann wurde das Luftschiff in die Halle gezogen. Kaum, dass die Besatzung und die beiden Passagiere die Gondel mit etwas wackeligen Beinen verlassen hatten, stürmten schon einige Reporter des Hamburger Correspondenten und des Fremdenblattes heran, um sich von dieser außergewöhnlichen Leistung berichten zu lassen. Die soldatischen Hilfsmannschaften hatten in der Zwischenzeit den Befehl zum Austreten bekommen und stärkten sich in den inzwischen geöffneten Restaurants von Sagebiel.

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